Dehnen – Was, wann, wieso, wie oft, wie lange? Theorie vs. Praxis

Zu diesem Thema gibt es zahlreiche Studien und Mythen und schlussendlich sind sich viele so unsicher, was jetzt eigentlich gut oder nicht so gut ist, dass das Thema komplett vernachlässigt wird.
Tatsächlich ist es etwas komplizierter, als dass man Schema X einfach allen Menschen raten könnte. Doch warum ist das so?

Logisch betrachtet muss man sich erstmal überlegen, was man durch Dehnen und Mobilisieren erreichen möchte. Der Idealfall wäre, wenn ich für meine Zielsportart die jeweils optimale Beweglichkeit in den Gelenken bei gleichzeitig optimalem Muskeltonus (nicht zuviel und auch nicht zuwenig) erreiche.
Hier wird sofort klar, dass
•  nicht jeder dieselben Muskeln dehnen und dieselben Gelenke mobilisieren muss (bin ich für meine Zielsportart bereits eher zu hypermobobil in einem bestimmten Bereich, möchte ich das nicht noch weiter „ausleiern“)
•  pauschale Aussagen wie „vor dem Sport keinesfalls dehnen“ auch nicht stimmen können.

Gehen wir vom Ideal aus: Ein Sportler hat in allen Muskelketten eine Bewegungsamplitude, die für die Zielsportart optimal ist - das Aufwärmen hat dann nur zum Ziel, alle Strukturen gut durchblutet und leistungsbereit zu bekommen.
Das Aufwärmprogramm reicht aus, um minimale Abweichungen von der benötigten Bewegungsamplitude auszugleichen und den Muskeltonus in den idealen Leistungsbereich zu bringen. Statisches Dehnen würde den Muskeltonus wieder verringern, was besonders für kraftbetonte Sportarten leistungsmindernd ist.

Heißt das also, dass niemand statisches Dehnen mit den klassischen 30sec Halten einer Position ins Aufwärmprogramm einbauen sollte? Nein!
Denn wir sind eben alle keine „perfekten“ Athleten, jeder von uns hat individuelle Schwachstellen, Dysbalancen, zurückliegende Verletzungen. Außerdem sind viele Menschen auch genetisch bedingt eher weniger gut beweglich, jedenfalls für so manche Zielsportart etwas zu inflexibel, haben durch das viele Sitzen oder aber auch in Kombination mit dem Älterwerden einfach einen zu hohen Tonus in bestimmten Muskelketten. Das führt beispielsweise zu typischen Lauftechnikfehlern (siehe Artikel dazu) wie dem "sitzenden Laufstil".
Dann kommt noch dazu, dass das Aufwärmen an sich oft zu wenig vorsichtig gemacht wird – es wird zu intensiv losgelaufen und es kommt schon zu Beginn zu Mikroverletzungen in der Muskulatur (oder noch ungünstiger - in den passiven Strukturen wie Sehnen und Faszien). All das verringert auf Dauer immer weiter die Beweglichkeit.
Man kann übrigens genetisch bedingt in den Gelenken eher hypermobil sein, aber dennoch in bestimmten Bereichen muskulär bedingt „zu fest“ sein.
Weiß ich also, dass beispielsweise meine hintere Kette (Waden, Hamstrings, evtl. auch Gesäß und unterer Rücken) und oft auch der Hüftbeuger durch einen eher inaktiven Alltag einen zu hohen Tonus aufweisen („verkürzt“ sind), dann reicht es fast nie aus, einfach nur 15min locker Aufzuwärmen, um die ideale Bewegungsamplitude zu erreichen. In all diesen Fällen (und das betrifft die Mehrheit der Sportler, egal welche Leistungsklasse) wird es für die Verletzungsprophylaxe, aber auch für die Leistung (!) sinnvoll sein, besonders vor intensiveren Training mit etwas mehr Belastung und/oder Bewegungsamplitude (beim schnelleren Laufen wird der Schritt etwas ausladender als beim Grundlagenlaufen sein) dem Thema „ideale Beweglichkeit“ etwas Bedeutung beizumessen. Man darf auch nicht vergessen, dass der Gegenspieler eines „zu festen“ Muskels mehr leisten muss – mit der Auswirkung, dass die Bewegung energieaufwändiger, also unökonomischer wird – und im noch unangenehmeren Fall kommt es auch zu einer Überlastung.

Was kann man konkret tun? Wichtig ist, rauszufinden, was bei einem selbst (!) am Besten funktioniert. Dynamisches Dehnen wie Schwunggymnastik würde ich aufgrund der nicht so gut kontrollierbaren Bewegung nur wirklich aufgewärmt (nach beispielweise 15min locker Einlaufen) machen. Statisches Dehnen im komplett „kalten“ Zustand bringt bei mir persönlich nicht allzu viel, weil die Muskulatur nicht empfänglich dafür ist. Das kann bei jemand anderem aber schon wieder ganz anders aussehen! Wir sind sowohl genetisch, als auch hinsichtlich Vorerfahrungen und Verletzungen einfach zu individuell, als dass man solche Empfehlungen direkt aus Studien ableiten könnte. Man kann versuchen, Mechanismen, beispielsweise auf Zellebene, besser zu verstehen, aber am Ende muss man immer selbst ausprobieren, womit man am Ehesten Erfolg hat.
So kann es sein, dass beim Aufwärmen für eine Spielsportart die Teamkollegen komplett unterschiedlich dehnen und mobilisieren. Jemand, der eher steife Oberschenkelmuskeln hat zum Problemen mit dem Kniescheibengelenk neigt, wird eventuell längere Zeit im Fersensitz verbringen und vor der Belastung nur noch kurz Aktivieren, um den idealen Muskeltonus zu erreichen. Ein anderer Spieler würde sich damit eher träge fühlen und wärmt lieber nur dynamisch mit Anfersen auf.
Bei mir ist es aufgrund vieler vorangegangener Probleme mit Waden und Fersen einfach völlig Routine, vor jedem (!) Lauf die Waden mit der kleinen Faszienrolle weichzumassieren (professionelle Sportmassage wäre natürlich noch besser), dann kurz zu dehnen und dann erst raus zum Laufen zu gehen. Merke ich in intensiven Trainings- oder Wettkampfphasen, dass bestimmte Muskelgruppen eher „am Limit“ sind, nehme ich mir noch mehr Zeit dafür. Das bedeutet ein Mehr an statischem Dehnen, aber auch gezielte Schwunggymnastik zusätzlich vor intensiven Einheiten.

Sehr zeitsparend ist die Kombination aus Krafttraining und Mobilisieren in Satzpausen. Dazu muss man sagen, dass gezieltes Krafttraining („full range of motion“) an sich schon die Beweglichkeit verbessern kann – es kommt nur auf die Übungen und deren Ausführung an (Planks werden hier kaum Impact haben). Da ich zweimal in der Woche im Studio bin und beim Maximalkrafttraining die Satzpausen insgesamt schon bissl was an Zeit ausmachen, hat das einen sehr großen Impact auf die Beweglichkeit für mich.
In der Theorie (laut Studienlage) verschlechtern sich Maximalkraftleistungen durch das Dehnen zwar, allerdings kommt hier ein „Aber“ von mir – wenn die Beweglichkeit an sich für die Übung nicht ausreicht (man denke an das für viele notwendige Mobilisieren vor einer Tiefkniebeuge), dann überwiegt natürlich der positive Effekt der Beweglichkeitsverbesserung!
Auch die Art und Dauer der Dehnung (statisch vs. dynamisch, lange Dehnpositionen 30sec+) nehmen hier Einfluss – hier muss man schlussendlich selbst experimentieren und herausfinden, welcher Modus am Besten funktioniert. Es ist auch niemand gezwingen, direkt im Anschluss an lange gehaltenes statisches Dehnen einen Sprungtest zu machen, wie es in Studien eben typischerweise untersucht wird. Man kann auch zunächst die individuelle Bewegunseinschränkung adressiren und dann noch kurz sportartspezifisch aktivieren, beispielsweise durch kurze Sprungübungen. Dann ist die Kraft auch wieder da!
Bei den beweglichkeitsverbessernden Übungen mache ich beispielsweise gestrecktes Kreuzheben (VIDEO) – auch einbeinig - sehr gerne – hier wird die gesamte hintere Kette extrem gut mobilisiert (vergleiche den „Toe-Touch-Test“ – Finger/Handflächen zum Boden bei gestreckten Knien).

Nach dem Training mache ich eher weniger in diese Richtung, es hat sich für mich einfach nicht so sehr als Routine ergeben. Ideal wäre es nach kürzeren, leichteren Belastungen direkt im Anschluss. Da ich aber oft intensive Intervallprogramme oder stark ermüdende lange Läufe in meinem Trainingsplan habe, ergibt sich das für mich weniger. Hier kann nämlich ausgiebiges Dehnen die Mikroschäden in der Muskulatur noch verstärken. Jemand anderer fühlt sich damit aber eventuell sehr wohl und erreicht bessere Symmetrie und sportartspezifische Beweglichkeit – deshalb würde ich das niemals allgemeingültig formulieren.

Manche mögen auch gezielte Programme wie Yoga zur Beweglichkeitssteigerung – meins ist das so gar nicht (auch psychische Faktoren sollen mitberücksichtig werden …). Besondere Bedeutung kommt hier dem Hot Yoga zu, denn Wärme verbessert die Beweglichkeit, während Kältereize das Gegenteil bewirken.

Es ist auch gar nicht so schlecht, sich von Kindern typische Alltagshaltungen, welche die normale Beweglichkeit erhalten, abzuschauen. Dazu gehört beispielsweise die in unserer Kultur unübliche Position der tiefen Hocke, aber auch der Fersensitz. Wir können, beziehungsweise wir erhalten Bewegungsmuster, die wir auch praktizieren. Je älter wir werden, desto unbeweglicher werden wir auch – wenn wir Bewegungsmuster nicht immer wieder in den Alltag mit einbauen.

Die Grenzen zwischen Verletzungsprophylaxe, Leistungssteigerung und Therapie (gezieltes Beweglichkeitstraining ist ja in der Physiotherapie mehr als anerkannt!) sind hier fließend.

Verzichten sollte man auf unaufgewärmtes dynamisches Dehnen (Schwingen) und auch auf Dehnen kaputter Strukturen in der ersten Akutphase (beispielsweise in den ersten 3 Tagen eines Muskeleinrisses oder einer neu erworbenen Sehnenverletzung – weil der Muskel nicht isoliert angesprochen werden kann und die Sehne damit mit weiter „gezerrt“ wird. Im chronischen Verlauf überwiegen allerdings einerseits die positiven Effekte des verringerten Muskeltonus auf die damit verbundene Sehne, zum Anderen müssen in der Heilungsphase der Sehne auch kontrollierte Belastungsreize gesetzt werden, um die Ausrichtung der Kollagenfasern in der benötigten Belastungsrichtung zu gewährleisten. Ein Beispiel hierzu sind exzentrische Wadenübungen in der Heilungsphase von Überlastungen der Achillessehne).

Eine sehr wirkungsvolle Dehnungsmethode ist die Kombination mit maximaler Muskelanspannung. Dadurch wird ein Schutzmechanismus der die Dehnfähigkeit reduziert (sinnvoll bei abrupten, eher unkontrollierten Bewegungen) sozusagen „ausgetrickst“. Dabei geht man in die Dehnposition (am Besten schon aufgewärmt) und spannt dann so stark wie möglich statisch (ohne sich zu bewegen) gegen die Dehnrichtung 5sec an und lässt dann wieder locker, bleibt dabei in der Dehnung.

Um wirklich langfristig eine Verbesserung der Beweglichkeit zu erzielen, ist regelmäßiges Training (wie auch bei allen anderen Fähigkeiten) nötig. Wie groß das Entwicklungspotenzial ist, hängt unter anderem an der Genetik. Wichtig ist es, einen Rhythmus zu finden, den man auf Dauer durchhält. Eine Woche lang täglich intensiv dehnen und dann wochenlang „keine Zeit dafür haben“ bringt einen nicht wirklich weiter. Deshalb habe ich es auch schwerpunktsmäßig mit dem Krafttraining kombiniert. Bei mir ist es inzwischen übrigens so, dass ich (bis auf kleine Asymmetrien zwischen linker und rechter Seite) zumeist durch das Beweglichkeitstraining gar keine große Verbesserung erzielen möchte – sondern den Status erhalten. Dies ist insbesondere in Zeiten, in denen ich viel am Rad sitze und in Relation weniger laufe, dringend nötig. Durch die sehr kleine Bewegungsamplitude beim Radfahren werde ich ansonsten immer steifer und unbeweglicher, was zu einer spürbar höheren Verletzungsanfälligkeit beim Laufen führt.

Spannend ist auch, dass beim Beweglichkeitstraining die Reize viel häufiger erfolgen können, ohne dass es zu einem „Übertraining“ kommt. Während die Muskulatur nach echten Kraftreizen mindestens 48h zum Reparieren braucht, so lebt das Mobilisieren von der Häufigkeit – bei Bedarf ist sogar mehrmals täglich sinnvoll (sofern man nicht so extrem gedehnt hat, dass schon dadurch ein Muskelkater entsteht – wie es bei schlecht aufgewärmtem dynamischen Dehnen oder einer Überforderung durch eine erstmalige Yogastunde passieren kann). Ein „Mehr“ ist hier also tatsächlich besser im Sinne des Effektes (sofern eine Beweglichkeitssteigerung erwünscht ist).

Übrigens: Positiv für die Beweglichkeit und den idealen Muskeltonus ist eine gute Versorgung mit Magnesium, aber auch genug Kalorien generell (nach einem Hungerast sind am nächsten Tag die Muskeln meist „wie Beton“).

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